SPRUCH des Monats September
- Spruch
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der fern ist?
(Jer.23,23)
Der Prophet Jeremia hat ein schweres Amt. Er soll sein Volk davor bewahren, seine Sicherheit im politischen Taktieren mit den Nachbarn zu suchen und dabei den Bund mit seinem Gott zu vergessen. Niemand will seine Warnungen hören. Sie haben doch ihren Tempel in Jerusalem, ihren Gott ganz nah! Wenig später liegt der Tempel in Schutt und Asche, und der Großteil des Volkes ist deportiert ins Feindesland.
„Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, und nicht auch ein Gott, der fern ist?“, legt Gott dem Propheten in den Mund. Als fernen Gott hat das Volk Israel seinen Gott immer wieder erlebt. Gott ist nicht nur der, der sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten befreit und es sicher durch die Wüste geführt hat auf dem Weg in das gelobte Land. Gott ist der Unverfügbare. Ja, er ist da, seinem Volk durch die Thora ein treuer Verbündeter, und er wird immer da sein. Aber er lässt sich nicht festlegen auf eine Gestalt oder ein Bild. Er ist der Unnahbare, den kein Mensch zu Gesicht bekommt, und dem kein Mensch sich ungeschützt nähern kann, ja, den man nicht einmal beim Namen nennen darf. So, wie der Gott Israels seine schützende Hand über sein Volk hält, so kann er ihm seinen Schutz auch wieder entziehen, es dem Unheil preisgeben.
Mit Gottes Unsichtbarkeit und seine Unendlichkeit ist zugleich für den Menschen seine Unfassbarkeit und seine Unverständlichkeit verbunden.
Für das Volk Israel vor 2 ½ Jahrtausenden nicht anders als für uns heute.
Auch wenn sich für uns Christen Gott in Jesus Christus in unserer Menschengestalt offenbart hat. Gott ist auch für uns nicht nur der „liebe“ Gott, der es gut mit uns meint, der in unserer Nähe ist und alles gut macht. Wir kennen auch den fernen Gott! Vielleicht ist er manchem Menschen unter uns deutlicher begegnet als der nahe Gott.
„Wo warst du, Gott?“, fragen wir, wenn ein Unglück geschieht, ein Terrorist auf offener Straße wahllos Menschen umbringt. „Warum erhörst du uns nicht, Gott?“, fragen wir, wenn wir für einen geliebten Menschen, der tot krank ist, beten, und er stirbt doch. „Wo warst du in Auschwitz, in all den Kriegen, die die Welt überziehen?“
Da erleben wir die dunkle Seite Gottes, die uns verborgen ist und die wir nicht begreifen. Unverfügbar ist Gott für uns. Mal scheint er uns ganz nah zu sein. Ein Wort von ihm berührt uns, richtet uns auf in einer schweren Zeit. Wir erleben einen Sonnenuntergang am Meer und fühlen uns fast eins mit Gott und seiner Schöpfung. Und dann ist er uns wieder ganz fern. Wir begreifen nicht, dass Gott zulässt, was geschieht, dass er unsere Gebete nicht erhört und nicht eingreift und Unheil abwendet. Gottvertrauen und Gottverlassenheit wohnen so nah beieinander wie Gottes Nähe und Gottes Ferne.
Beides begegnet uns wie auf einen Punkt konzentriert in Jesus am Kreuz.
Gleichsam wie in einem Vermächtnis. Es ist seine letzte Stunde und eins seiner letzten Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Mehr Mensch kann Jesus nicht sein, als teilzuhaben an unserem ohnmächtigen Greifen nach Gott, wo uns nichts mehr hält in diesem Leben. Sich dem Gebet anvertrauen vor dem Abgrund, wie es Generationen von Brüdern und Schwestern vor ihm auch getan haben in ihrem einsamen Sterben. Und doch ist es kein Griff ins Leere, kein Hinabfallen ins Nichts. Es ist die Suche nach Gottes Gegenwart auch in der Finsternis dieses verzweifelten Augenblicks.
Sein letztes Wort hat gleichsam wieder den Boden gefunden am Ende des Abgrunds: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“. Da ist er wieder, der nahe Gott, dem ich mich verbunden fühle wie das Kind seinem Vater, dem das Kind in die Arme springt von der hohen Mauer und die Tiefe nicht fürchtet, weil es darauf vertraut, dass der Vater es auffängt.
In dieser Spannung bewegt sich unser Glaube, zwischen Gottvertrauen und dem Gefühl, von Gott verlassen zu sein, zwischen Gottesnähe und Gottesferne. Daran hat sich über die Jahrtausende nichts geändert. Egal, ob der Mensch Jude ist oder Christ.
Tröstlich, dass auch der Prophet Jeremia am Ende seinem Volk doch auch noch ein tröstliches, ermutigendes Gotteswort auszurichten hat: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“. (Jer. 29,11)
In dieser Gewissheit lässt es sich leben, was immer die Zukunft bringen mag.
Ulrike Börsch, Pfrin i.R., Ortsverband Kassel